KUNSTFORUM International, Band 209

Dokumentationskunst

Heinz Schutz

»Performing the Document«
Galerie Traversée
24.3. – 8.5.2011

»Staging Documentary«
Lothringer_13_Halle,
13.5. – 26.6.2011

INGRID WILDI MERINO, Arica, Norte de Chile - No Lugar y Lugar de Todos, 2010, 3-Kanal HD-Video Installation, 68:00 min. Sprache : Spanisch, Untertitel : Deutsch/Französisch, Foto. Barbara Donaubauer. Copyright Galerie Traversée

INGRID WILDI MERINO, Arica, Norte de Chile - No Lugar y Lugar de Todos, 2010, 3-Kanal HD-Video Installation, 68:00 min. Sprache: Spanisch, Untertitel: Deutsch/Französisch, Foto. Barbara Donaubauer. Copyright Galerie Traversée

Das Dokumentarische galt lange Zeit als Domäne der Fotografie und des Films, partiell des Theaters und der Literatur. Im Kunstzusammenhang wurde dem Interesse am Dokumentarischen durch den Konzeptualismus Vorschub geleistet, dokumentiert er doch gleichsam konkrete Realisierungen abstrakter Ideen. Verstärkt wurde dieser Impuls durch das Interesse am Archiv. Mehr noch war und wurde das Dokumentarische für politisch engagierte Kunst von besonderer Bedeutung. Inzwischen nimmt es in der Kunst, immer wieder in Verbindung mit Fotografie und Film, einen breiten Raum ein, so als gehe es heute darum, sich einer mehr und mehr entgleitenden Realität mit dokumentarischen Mitteln zu vergewissern, wobei in einer autoreflexiven diese Mittel selbst befragt werden.

In München befasste sich jüngst die Pinakothek der Moderne in Kooperation mit der Hochschule für Film und Fernsehen mit dem Dokumentarfilm, zwei Ausstellungen setzen sich nun mit dem Dokument und dem Dokumentarischen auseinander: "Performing the Document" in der Galerie Traversée und "Staging Documentary" in der Lothringer_13_Halle. Auffallend dabei ist, dass beide Ausstellungen den Aufführungscharakter des Dokumentarischen respektive des Dokuments betonen und dabei doch zwei unterschiedliche Positionen einnehmen: "Performing the Document" geht vom Dokument als registrierenden Verweis aus, ein Verweis der auch als Übersetzungsleistung verstanden werden kann und der der dadurch, dass er seine Eigenrealität ins Spiel bringt, sich vom dokumentierten Realen abzulösen vermag. "Staging Documentary" präsentiert in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich, filmische Positionen, die den Duktus des Dokumentarischen aufgreifen aber von Fiktionen handeln und trotz des fiktionalen Kerns imstande sind, Einsichten in gesellschaftliche Realitäten zu vermitteln.

Wenn heute dem Dokumentarischen in der Kunst besondere Aufmerksamkeit zukommt, so trugen dazu auch die fotografischen DokuNarrationen Allan Sekulas bei. Seine im Jahr 2002 auf der documenta 11 installierte "Fish Story" setzte Maßstäbe in ihrer dialektischen Verknüpfung von globaler Erzählung und optischem "Detail" als Antwort auf die weltweiten gesellschaftlichen Verflechtungen. Anna Schneider, die Kuratorin von "Performing the Document" betont, dass sich Sekula anfangs insbesondere auch mit Performances auseinandersetzte. Und in der Tat, betrachtet man etwa "Meat Mass" von 1972 – Sekula schleuderte aus dem Supermarkt entwendetes Fleisch unter die Räder vorbeifahrender Autos – so verzahnt sich hier das Dokumentarische mit dem Performativen. Als die Dokumentation einer quasi experimentellen "Versuchssituation" mit performativen Implikationen kann auch die in der Galerie Traversée vorgeführte Diashow aus dem Jahr 1972 betrachtet werden. Sekula dokumentiert am Ausgang einer Raumfahrtfabrik in San Diego wie die Arbeiter und Angestellten nach der Arbeit das Werksgelände über eine Treppe verlassen. In ihren Gesichtern spiegeln sich die Erfahrungen des Arbeitstages, aber auch die Erwartung einer Welt außerhalb der Arbeit. Angefangen von Jessners Theaterinszenierungen bis hin zur Revue und Fernsehshow werden Treppen gerne auf der Bühne eingesetzt, wobei die Stars meist die Treppe zu den Zuschauern heruntersteigen. In Sekulas Dokumentation steigen die Arbeiter vom Fabrikgelände hoch zum Ausgang auf die Kamera zu.

Wie bereits angedeutet: Dokumente sind Verweise auf eine außerhalb von ihnen liegende Realität, aber sie bringen auch ihre eigene mediale Realität ins Spiel. Deutlich wird dies etwa in einer Fotoserie von Cyrill Lachauer. Der sich hier auf scheinbar banale Details und Zerstörungen richtende Blick lässt an die detektivische Bestandaufnahme eines Tatortes denken, die atmosphärische Anmutung der Bilder er- zeugt den Eindruck, es handle sich um Fotos vom us-amerikanischen Westen – tatsächlich wurden sie in Rosenheim aufgenommen. So gesehen bildet das fotografische Bild nicht nur das Reale ab, sondern evoziert auch die Geschichte der eigenen Gattung. Gewöhnlich erwecken Dokumentationen den Eindruck des Authentischen, sie können jedoch durchaus inszeniert sein wie etwa die Fotografien des argentisch-französischen Künstlers Mohamed Bourouissa. Seine Aufnahmen von Bewohnern der Pariser Banlieus sind weitgehend künstlich gestellte Szenen, ihre Komposition folgt klaren formalen und inhaltlichen Vorgaben. In diesem Sinne entstanden auch die Video- und Fotodokumentation eines Gefängnisses von Innen aufgrund Bourouissas Anweisungen qua Mobiltelefon von Außen.

Da sich Dokumentationen, zumal im Kunstzusammenhang, immer wieder auf das Optische konzentrieren, wird aufgrund der suggerierten optischen Evidenz allzu leicht verkannt, dass es sich hier immer auch um Übersetzungen handelt. Vor diesem Hintergrund ist Saâdane Afifs "One,Two...: Light & Time Tracks"von besonderem Interesse, führt er doch eine Reihe von Transformationen von einer Gattung zur anderen vor: zu Musikstücken entstehen Texte, ihre Länge übersetzt er in einer Lampeninstallation in Licht und Zeit. Auch Ingrid Wildis Auseinandersetzung mit Chile verdeutlicht, dass das Selbstverständnis der Chilenen und die Einschätzung ihrer ökonomischen Situation nicht nur subjektiv ist, sondern auch als Dokumentation vermittelte Eindruck für den Betrachter medial bedingt ist.

Wie das Dokumentarische selbst wie eine eigene Gattung funktioniert, die scheinbar Authentizität und Wahrheitsanspruch garantiert, lässt sich in der von Felix Ruhöfer kuratierten Ausstellung "Staging Documentary" erfahren. In einer Vitrine präsentiert Klaus Held wie in einem archäologischen Museum Fundstücke der "Khuza"-Kultur. Ein in Sibiren gedrehter Videofilm erläutert den Fund und die Grundlagen der neu entdeckten Kultur, die sich bei näherem Hinhören und Hinsehen aufgrund denkwürdiger Abstrusitäten eigentlich als Erfindung zu erkennen geben müsste. Die Stringenz der Form täuscht jedoch darüber hinweg. Zumal für Laien ist es letztlich immer primär die Form der Präsentation, der institutionelle Kontext und die damit heraufbeschworene Glaubwürdigkeit, die sie an die Richtigkeit und Wahrheit des Behaupteten glauben lässt. Wenn Peter Müller und Adrian Nießler Bilder aus Bilddatenbanken für Wissenschaftsjournalisten auswählen und abzeichnen, handelt es sich ausschließlich um Personen. Der journalistische Diskurs setzt offensichtlich dort, wo die Möglichkeit zur Überprüfung versagt, auf die Glaubwürdigkeit von Personen.

Das Durchgängige von "Staging Documentary" ist, dass das vordergründig dokumentarisch Behauptete nicht wahr, sondern Fiktion ist, eine Fiktion, die allerdings durchaus imstande ist Einsichten in die Realität zu vermitteln. Sven Johnes Archiv mit angeblichen Fotos eines DDR-Flüchtlings, der über die See in den Westen entkam und dann nach der Wiedervereinigung zurückehrt, um sich später im Meer umzubringen, ist auch ein politischer Kommentar über das vereinte Deutschland. Der Doku-Spielfilm von Charlotte Ginsborg handelt von fiktiven Charakteren, die in einer realen Umgebung agieren. In ihren fiktiven Symptomen spiegelt sich die reale Kälte von auf Repräsentation zielenden Hochhausarchitekturen.

Immer wieder mischt sich in den präsentierten Filmen Reales und Fiktionales und formt unter dem Anschein des Dokumentarischen ein Drittes. Das Abdriften einer ganzen Insel und der Versuch ihrer fantastisch anmutenden Fixierung mit Hilfe von Seilen in Rosa Barbas Film erscheint wie ein Märchen, hat aber durchaus einen realen Kern und lässt sich wie eine Allegorie auf fundamentale ökologische Bedrohungen lesen. Wenn Cheryl Dunye die Geschichte eine lesbische Paarbeziehung einer schwarzen Frau in New York erzählt, dann transportiert das Fiktive auch Reales. Ein spezifischer Umgang mit dem Fiktiven zeichnet sich bei Adrian Paci ab: Er dokumentiert wie er sich seinen Totenanzug anzieht, wie er von einer albanischen Klagefrau betrauert wird und dann am Ende wieder vom Totenbett lebendig aufersteht.

Am radikalsten in seiner Mischung aus Groteske und Terror, aus Realität und Medialität ist Omer Fasts filmische Nachinszenierung eines Terroranschlages in Israel. Auf mehreren Ebenen reflektiert er die Pattern der dokumentarischen Bildproduktion, wobei die Filmaufnahmen im Film selbst zum Politikum werden. Als ältester Film der Ausstellung – er erstand bereits im Jahr 1975 – nimmt "The Eternal Frame"von Ant Farm unter dem Vorzeichen radikaler Medienreflexion vorweg was heute als "Reenactment" bezeichnet wird. Für die Kamera spielt Ant Farm die Ermordung John F. Kennedy’s nach, sie wiederholen jene Szene, die, wie später der Angriff auf die Twin Towers, zur omnipräsenten Medienikone wurde. Interviews mit den Zuschauern des Reenactments machen deutlich, dass die nachgespielte Szene auf der einen Seite dieselben Emotionen des Schreckens und der Trauer auszulösen vermag, wie der Anblick der Originaldokumentation, auf der anderen Seite zeigt sich, dass das Reenactment als großartig genossen werden kann. Offen sichtlich liefert die medial vermittelte Dokumentation eine Realität sui generis, die nicht mit der Realität außerhalb ihrer selbst verwechselt werden sollte. Aber wie lässt sich ihrer ohne Dokumentation habhaft werden?

Download catalog - Galerie_Traverse.pdf

 

ALLAN SEKULA, Untitled Slide Sequence, 1972, Dia Nr. 1 von 25 Kleinbilddias, Projektion in 13-Sekunden Intervallen, Gesamtdauer 17 min 20 sec (Loop), Foto. Barbara Donaubauer. Copyright Galerie Traversée

 


SAÂDANE AFIF, One, Two...: Light & Time Tracks, 2009, Alufolie, Pappe, Gouache, Stativ, 4 farbige Glühbirnen, 4-Kanal-Dimmer (DMX), Programmierung, Format variabel, Unikat, 2009, Foto. Barbara Donaubauer. Copyright Galerie Traversée

 


MOHAMED BOUROUISSA, Temps mort, 2009, Video, 18 Min. Links : CYRILL LACHAUER, Rache für Willy Stricker, serie of 13, 2010 Barytprint,
18 x 27 cm, Foto. Barbara Donaubau- er. Copyright Galerie Traversée

 

OMER FAST, Take A Deep Breath, 2008, courtesy Omer Fast


Ant Farm, The Eternal Frame, 1975. Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York

 

CHARLOTTE GINSBORG, The Mirroring Cure, 2006, courtesy of Charlotte Ginsborg